Würde und Solidarität – Austausch und Diskussion mit Dr. Holger Thiel am 15. April 2024

Anknüpfungspunkte zu unseren bisherigen zwei Veranstaltungen zu Würde und Solidarität am 28.8.2023 und 29.1.2024

Mensch und Natur:  Wir haben uns in den vorangegangenen zwei Veranstaltungen der Würde des Menschen angenähert, indem wir die „Nicht-Verdinglichung des Menschen und der Natur“ als eine wichtige Voraussetzung herausgestellt haben, die wertschätzende Handlungen zur Folge haben.

Wie kann eine wertschätzende Haltung entstehen?  Wenn es gelingt, den Menschen unabhängig von Wertvorstellungen als an sich wertvoll zu erkennen.

Weiterführende Gedanken, Impulse und Fragen im dialogischen Gespräch am 15.4.2024

Wertschätzung durch Begegnung:  Der historische Liebesroman von Martin Walzer über den 73jährigen Goethe und die 19jährige Ulrike von Levetzow (Romantitel: Ein liebender Mann) kann als gelungener Versuch bezeichnet werden, sich der Perspektive Goethes zu nähern, ohne ihn zu instrumentalisieren. Die aufrichtig empfundene Liebe Goethes zu Ulrike von Levetzow wird von Walser literarisch so beschrieben, dass eine aufrichtige tiefe Liebe zum Vorschein kommt, ohne den bekannten gesellschaftlichen Bewertungen hinsichtlich des großen Altersunterschiedes nachzugehen. Walzer, ein „Goethe-Verehrer“, lässt im Roman die Natur und ihre Erhabenheit sowie die Liebe zwischen den zwei Liebenden so sein, wie sie ist. Der Roman kann hier als künstlerische Wertschätzung Walsers gegenüber Goethe verstanden werden.

Einen anderen Menschen wertzuschätzen, ihn zu würdigen kann entstehen, wenn wir erkennen, was diese Begegnung bei uns ausgelöst hat. Je weniger wir über andere Menschen urteilen, sie bewerten und zum Objekt machen, desto eher kann sich wertschätzendes Handeln bemerkbar machen.  

Begegnungen – Erwartungen – Bewertungen – Werte:

Begegnungen zwischen Menschen können auf der einen Seite wohltuend, inspirierend und zur eigenen Entfaltung beitragen auf der anderen Seite Vorbehalte und Erwartungshaltungen festigen. Begegnungen eines Menschen mit der Natur – beispielsweise mit einem Baum – können einem Menschen hilfreiche Impulse geben und seine Gefühlsbereiche neu anregen, zum Beispiel beruhigend wirken, Freude und Dankbarkeit empfinden lassen, neue Zuversicht und Vertrauen entdecken, Zufriedenheit empfinden können …

Erwartungen an andere Menschen sind – bewusst oder unbewusst – von Vorurteilen, Vorbehalten, verzerrten Wahrnehmungen und einem „naturhaften“ Zwang gekennzeichnet, andere Menschen sowie die jeweilige Lebenssituation mit den jeweiligen Akteuren und Objektkonstellationen einzuschätzen und zu bewerten.

In der Schul-Pädagogik geht es u.a. darum, Kindern Werte zu vermitteln, die ihnen helfen, sich in der bestehenden sozialen Welt zurechtzufinden. Können die von Natur aus neugierigen Kinder so auf ihrem Lebensweg begleitet werden, dass ihre jeweiligen Grundbedürfnisse auch in der Schule Beachtung finden?

Im ZEN-Buddhismus kommt der Lebensführung im Hier und Jetzt große Bedeutung zu. Alle Dinge, Lebewesen und Ereignisse werden als Einheit angesehen und somit gleich gewichtet. Das so entstehende reine SEIN soll für den Menschen befreiend sein und das neugierige Lernen fördern.

Der Blick auf die letzten Jahrhunderte der Menschheitsgeschichte zeigt, dass das Denken in Zwecken mit dazu geführt hat, dass vielfältigste Erfindungen und naturwissenschaftliche Forschungen (wie z.B.: Fortschritte bei der Bekämpfung von Krankheiten und Seuchen, Entwicklung von Maschinen, die die Arbeit von Menschen erleichtern, Elektrizität, Eisenbahn, Automobile, Telefon, Funk, Computer, Internet uvam.) das menschliche Leben stark verändert hat. Neben den nicht zu leugnenden Fortschritten, beispielsweise im Medizinbereich oder bei der Produktion von Massenwaren in einer automatisierten Fertigungsanlage, sind neue negative Auswirkungen entstanden, wie beispielsweise die Ausbeutung von Fabrikarbeitern, große soziale Probleme durch Landflucht, Zerstörung von sozialen Beziehungen uvam. Um den negativen Auswirkungen entgegenzuwirken entstanden Gewerkschaftsorganisationen und eine Sozialgesetzgebung, die versuchte, die besonderen Risiken, wie Arbeitsunfälle, Altersarmut, Krankheiten, Arbeitslosigkeit durch spezifische Leistungen zu minimieren.

Wirkung von Begegnung am Beispiel des Schriftstellers Albert Camus und der Schauspielerin Maria Casarès: Charles Pépin, der Autor des Buches „Kleine Philosophie der Begegnung“ (2022) beschreibt, wie eine alltägliche Begegnung zwischen dem Schriftsteller Albert Camus (1913-1960) und der Schauspielerin Maria Casarès (1922-1996) dazu führte, dass sich Camus Lebenseinstellungen grundlegend veränderten und eine zwölfjährige intensive Liebesbeziehung mit über 500 Briefen entstand. Aus dieser Liebe, aus dieser Freundschaft entstanden Kräfte zu grundlegenden Einstellungsänderungen.  Zitat von Seite 79: „Der geliebte Mensch kann auch unser Freund im aristotelischen Sinne sein. Camus erkannte, dass er durch seine Begegnung mit Maria gewachsen war, stolzer auf sein Leben sein konnte, weniger schnell in Selbsthass verfiel, offener war für Bewunderung. Diese bejahende Kraft schlummerte in ihm, aber erst die Begegnung mit ihr hat es ihm ermöglicht, in den Worten von Aristoteles, < diese Anlage zu aktualisieren >. Er hat sich nicht nur für Marias Weltsicht geöffnet, sondern auch seine eigene weiterentwickelt. Wenn wir uns durch die Berührung mit anderen verändern, begreifen wir, wie sehr wir sie brauchen, um wir selbst zu werden.“  

Frage: Wie wäre es, wenn wir jede Begegnung als eine potentielle Freundschaft betrachten könnten?

Kritische Theorie – Komplexität und Vielfalt – Brücke zur Solidarität:

Die Kritische Theorie der Frankfurter Schule wurde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch den Sozialphilosophen Max Horkheimer (1895-1973), den Philosophen und Soziologen Theodor W. Adorno (1903-1969) und den Philosophen und Soziologen Herbert Marcuse (1898-1979) begründet. Die Kritische Theorie kritisiert fundamental die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft mit ihren Herrschafts- und Unterdrückungsmechanismen. Sie beschreibt und analysiert beispielsweise soziale Ungerechtigkeiten, die Entstehung des Faschismus und die Krisen des Kapitalismus, „ … mit dem Ziel einer vernünftigen Gesellschaft mündiger Menschen – Menschen, die bereit und fähig sein können zur Selbstbestimmung, Unabhängigkeit und Eigenständigkeit“ (nach Hobmair, Soziologie, 2019, Seiten 224-225). Marcuse weist am Beispiel der Nazi-Ideologie darauf hin, dass Solidarität bei oberflächlicher Anwendung in einem autoritären Herrschaftssystem zu menschenverachtenden negativen Auswirkungen führen kann. Beispiel: Solidarität von Mitgliedern innerhalb von Nazi-Organisationen, die Andersdenkende bekämpfen, erniedrigen, ausschließen oder als lebensunwert bezeichnen und umbringen. Zudem werden gesellschaftliche Grundprobleme wie die gerechte Verteilung und Teilhabe aller Menschen (Problem: Arm und Reich bzw. die Entwicklung zu einer Zwei-Drittel-Gesellschaft) verdeckt. Adorno beschreibt Solidarität u.a. als schöner Schein, der nicht erzwungen werden kann und eher utopischen Charakter hat. Seine Solidarität-Utopie umschreibt er mit den Worten: gleich – gleich (Gleichheit aller Menschen und Teil der Welt sein); „wir sind gleich“ ist die solidarische Grundhaltung; offen sein gegenüber dem Unbekannten; den anderen erst einmal so sein zu lassen wie er/sie ist; es gibt eine Subjektivität und ein Eigeninteresse; Begegnung heißt, sich dem Anderen anzunähern; es ist nicht einfach, die Komplexität jedes Einzelnen mit der Vielfalt der gesamten natürlichen Welt zu verstehen und zu leben.

Grundlagen und Thesen zur Solidarität:

Begriffliches:  solidarisch (lat. solidus; solide); Solidarität: unbedingtes Zusammenhalten mit jemandem aufgrund gleicher Anschauungen und Ziele; Zusammenhalt zwischen gleichgesinnten oder gleichgestellten Individuen, Gruppen, Gemeinschaften und Völkern; Solidarität bekommt je nach Weltanschauung einen anderen Sinn; Solidarität ist die Suche nach gemeinsamen …

These: Solidarität ist kein Wert an sich. Solidarität steht immer im Kontext der Zeit.

Beispiel Familie: In Familien dominiert im Regelfall die Haltung der Verbundenheit und die Unterstützung von Ideen, Aktivitäten und Zielen anderer Familienmitglieder. Kritik bedeutet in diesem Kontext zunächst, dass man etwas verändern will – ohne die Solidarität, die Verbundenheit mit dem anderen aufzugeben.

These: Verständigung ist die Basis von Solidarität.

Verständigung: den anderen nicht ausnutzen zu wollen; sich verbunden fühlen mit …; eine wertschätzende Verständigung im Alltag praktizieren;

Frage: Was sind unsere Leitplanken der Solidarität?

Meine kurze Zusammenfassung – aus der Ich-Perspektive

Mich hat das dialogische Gespräch mit Holger Thiel und allen Teilnehmenden diesmal wieder wohltuend angeregt, mich weiter mit Gesprächsimpulsen zu „Wertschätzung durch Begegnung“, Erwartungen, Wirkungen von Begegnungen, ZEN-Buddhismus vs  Denken in Zwecken sowie Solidarität und Kritische Theorie zu beschäftigen. Beeindruckt hat mich wieder einmal, dass unsere Gespräche von Achtung, Respekt und Wohlwollendem Zuhören geprägt waren. Ich habe mich sehr wohl gefühlt.

Berlin, 29.7.2024 / Otto Hofmann

PS: Meine nachträgliche Entdeckung: „Die Würde der Natur achten“ – WDR-Podcast vom 6.5.2024 mit Umweltethiker Eckart Löhr –  ca. 55 Min. – Philosophisches Radio – Link:  https://www.ardaudiothek.de/episode/wdr-5-das-philosophische-radio/eckart-loehr-die-wuerde-der-natur-achten/wdr-5/13378747/

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